12. Dezember 1908 – 23. Dezember 1994
Schriftstellerin / Literaturhistorikerin
Über das Leben von Anna D. Whyte ist wenig veröffentlicht. Im Jänner 2021 erschien im Bulletin der Virginia Woolf Society of Great Britain ein biografischer Beitrag über die Autorin, verfasst von ihrem Sohn Rob Winchcombe ("Anna D. Whyte and the Woolfs"). Leider war es nicht möglich, dieses Heft zu erwerben, da die Society erst nach einem abgeschlossenen Jahrgang Einzelhefte des Bulletins verkauft. Auch ein PDF des Beitrags - natürlich gegen Bezahlung - war nicht erhältlich, PDFs werden nur Mitgliedern zugänglich gemacht. Allerdings ermöglichte mir schließlich Rob Winchcombe den Zugang zu diesem Text, der biografische Details und Auszüge aus Anna D. Whytes Memoiren enthält: dafür möchte ich mich sehr herzlich bedanken; ebenso für das Foto, welches die Autorin stakend auf der Cam in Cambridge zeigt.
Anna D. Whyte wurde in Neuseeland geboren und war die jüngste von drei Geschwistern; ihre Eltern stammten aus Glasgow, die Mutter war Krankenschwester, der Vater Arzt.
Anna besuchte das Girl's College in Wellington; 1923 erhielt sie vom Circle Litteraire in Wellington eine Urkunde für ihre ausgezeichnete Prüfung in Französisch, 1926 war sie am Victoria College der University New Zealand erfolgreich in Französisch.
1926 kehrte die Familie nach Europa zurück. In den 1930-er Jahren wohnte sie im Norden Londons in einem der ersten Apartment-Hochhäuser (Highpoint) auf der Anhöhe von Highgate: das Gebäude wurde von dem russischen Architekten Berthold Lubetkin, einem Pionier der Moderne, erbaut, hatte Swimmingpool und Tennisplätze in einer großzügigen Gartenanlage und wurde von berühmten Architekten wie Corbusier als architektonische Leistung ersten Ranges bezeichnet.
Anna studierte am Newnham College Englisch und Englische Literatur und schloss 1930/1931 mit dem Bachelor of Arts ab. Sie besuchte u. a. die Gastvorträge von E. M. Forster und Virginia Woolf, die im Oktober 1928 ihre legendären Vorträge in Cambridge hielt, aus denen ihr Essay "A Room of One's Own" / "Ein Zimmer für sich allein" hervorging: für Anna entstand dabei der Eindruck, dass Virginia Woolf etwas neidisch auf ihre Zuhörerinnen war, die durch ihr Studium die Möglichkeit zu höherer Bildung erhielten. Während ihrer Studienzeit war Joan Pernel Strachey Prinzipalin von Newnham, enge Freundin von Virginia und Leonard Woolf.
Anna unternahm mit ihrer - offensichtlich wohlhabenden - Familie ausgedehnte Reisen durch Europa, besuchte u. a. Frankreich und Österreich, und verbrachten Monate in Italien, wo sie Stoff für ihren ersten Roman sammelte. In England fand sie während längerer Aufenthalte in Bournemouth und Umgebung den Platz, wo sie ihren ersten Roman ("Change Your Sky") schrieb, ihren zweiten ("Lights are Bright") plante und über einen dritten nachdachte. Auf einer Reise in ihre alte Heimat Neuseeland - Virginia Woolf: sie durchkreuzte die Welt auf Frachtschiffen - schrieb sie dann auch ihren zweiten Roman.
Ende Oktober 1935 wurde Anna von den Woolfs zum Tee eingeladen und Virginia Woolf beschreibt sie als "nett, nicht hochintelligent aber frisch, mit einer vorspringenden Nase, Augen, die merkwürdig zwischen hart und weich wechseln". Anna beschreibt dieses Treffen in ihren Erinnerungen genauer: Anfangs unterhielten sie sich im Plauderton über Alltägliches - den Unterschied von chinesischen und indischen Tees, die Vorzüge eines elektrischen Herdes gegenüber eines Gasherdes, den Luxus von ständigem Warmwasser im Wohnhaus von Anna ... Danach wurde Virginia Woolfs Ton geschäftlicher - eine kühle Stimmung und Schweigen entstand, als Anna die Entstehung von "Change Your Sky" schilderte: sie wollte einen Roman schreiben, hat sich hingesetzt und war dann in zwei Monaten fertig; Anna konnte nicht wissen, welch Verzweiflung und Qualen Virginia Woolf beim Schreiben und Beenden ihrer Texte durchlitt. Nachdem Anna über ihr Studium erzählte, über Neuseeland, ihre Familie, lockerte sich die Gesprächsatmosphäre, man sprach über die berühmten Freunde der Woolfs und Anna ging danach überwältigt nach Hause.
Bei einer weiteren Einladung im November lernte Anna Stephen Spender, Helen Anrep, Sally Graves kennen; Virginia Woolf, majestätisch gekleidet, badete in der Bewunderung ihrer Gäste und zog mit witziger Schärfe und intimen Details gemeinsam mit den anderen über Freunde und Bekannte her. Im Laufe des Abends verlor Anna zunehmend ihre Verehrung und ihre Hochachtung für diesen elitären literarischen Kreis.
Im Zweiten Weltkrieg und danach arbeitete Anna für BBC Monitoring Service in Caversham Park, Reading. Im Mai 1946 heiratete sie George E. Winchcombe, im Dezember 1947 wurde ihr Sohn Robert E. Winchcombe geboren; sie widmete sich ihrer Familie und publizierte nur vereinzelt in verschiedenen Zeitschriften.
1970 übersiedelte Anna und ihre Familie nach Dorset und betreuten das zum National Trust gehörende Geburtshaus von Thomas Hardy in Higher Bockhampton bei Dorchester; gemeinsam mit ihrem Mann entwarf sie Rundgänge zu den Wirkungsstätten von Hardy in Wessex, machte Führungen und entwickelte sich zu einer Thomas Hardy Expertin. So erschienen 1972 die Broschüre "The Country of 'Under the Greenwood Tree'", für die ihr Mann einen Plan zeichnete, 1978 "Thomas Hardy. A Wayfarer" und 1981 "Hardy's Cottage", eine Geschichte und ein kleiner Leitfaden durch das Geburtshaus von Thomas Hardy, wo auch sein Roman "Under the Greenwood Tree" entstand.
Auch nach dem Tod ihres Mannes blieb sie bis zu ihrer Pensionierung in Higher Bockhampton: 1981 ging der Reiseschriftsteller David Yeadon auf Spurensuche von Thomas Hardy und besuchte das Geburtshaus, wo ihn Anna mit einer Tasse Tee empfing, ihn durch Haus und Umgebung führte, eine ausführliche, 30 Meilen lange Reiseroute durch "Hardy Land" zusammenstellte und ihm ihr signiertes Buch "Thomas Hardy - A Wayfarer" gab.
Anna D. Whytes erste Veröffentlichung in der Hogarth Press, war ein Gedicht, das 1931 in "An Anthology of Cambridge Women's Verse" erschien; Anna registrierte überrascht, dass ihr Gedicht "College Concert" - bereits veröffentlicht im Newnham College Magazin Thersites - darin aufgenommen worden war und meinte in einem Brief an ihre Eltern - witzelnd -, dass sie sich nun zu den Living Poets zählen könne.
Obwohl sich Anna D. Whyte nicht als Dichterin sah, veröffentlichte der neuseeländische Evening Star vom 25. November 1939 ein weiteres Gedicht: "The Dark House".
In der Hogarth Press erschienen zwei Romane, deren Schutzumschläge von Virginia Woolfs Schwester Vanessa Bell gestaltet wurden; wahrscheinlich kannte Vanessa Bell die Autorin, da sie Schutzumschläge für den Verlag nur in begrenztem Umfang entwarf, und da vor allem für die Bücher ihrer Schwester.
Nach einigen Versuchen Annas, ihren Roman - ihr erstes Kind - "Change Your Sky" bei einem Verlag unterzubringen, landete schließlich das Manuskript in den "bleichen, feinen Händen" von Virginia Woolf; drei Lektoren begutachteten den Text und die Hogarth Press beschloss - nach ein paar Textkorrekturen - die Veröffentlichung. "Change Your Sky" erschien im März 1935 und war in blaues Leinen mit Golddruck gebunden, der gelbe Schutzumschlag war blau bedruckt. Von den 1200 gedruckten Büchern wurden später 400 eingestampft, obwohl The London Mercury, die von Middleton Murry herausgegebene Zeitschrift The Adelphi, The Bookman, Daily Telegraph, John O'London's Weekly, Morning Post, Birmingham Gazette, Times Literary Supplement, Edinburgh Evening News und andere Zeitschriften das Buch angekündigt und rezensiert hatten. In Neuseeland wurde der Roman in Zeitschriften wie Auckland Star, New Zealand Herald, Otago Daily Times und Waikato Times beworben. Der komödienhafte Roman spielt in Florenz, in einem kleinen Hotel mit vorwiegend englischen Gästen, die vor dem trüben englischen Märzwetter geflüchtet waren und sich vom wärmeren Süden sowohl körperliche als auch geistige Neubelebung erwarteten.
"Lights Are Bright" erschien im Oktober 1936, war in grünes Leinen mit Golddruck gebunden und hatte einen weißen, schwarz bedruckten Schutzumschlag; von den 1219 gedruckten Bänden wurden später 469 eingestampft. Time and Tide fand den Roman auf intelligente Art unterhaltsam und sah in Anna eine Autorin, die einen verständnisvollen und amüsierten Blick auf die Welt hat und dies auch ausdrücken kann. In dem Roman wird eine Seereise nach Neuseeland beschrieben, auf der die Passagiere einen Hurrikan in Suva auf den Fidschis und eine Erdbeben in Neuseeland überstehen mussten. Neuseeländische Medien wie Horowhena Chronicle, Waikato Times und Otago Daily Times wiesen auf das Buch hin.
Nachdem Anna D. Whyte im Jänner 1939 das Manuskript ihres dritten Romans an die Hogarth Press geschickt hatte, kam das Manuskript mit einer rätselhaften Ablehnungsnotiz von Leonard Woolf zurück; ein Freund Annas, der Kriegspoet Robert Nichols, unterstützte sie bei der Suche nach einem Verlag - leider erfolglos .
Anna D. Whyte verehrte Thomas Hardy und entwickelte sich zu einer Expertin; als Anna D. Winchcombe veröffentlichte sie eine Reihe von Broschüren über Hardy und betreute sein Geburtshaus in Higher Bockhampton.
Im Berliner Verlag Autonomie und Chaos erschien 2022 eine Online-Ausgabe von "Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press" mit zusätzlichen illustrierenden Hintergrundtexten:
autonomie-und-chaos.de/die-buecher/helga-kaschl-frauen-in-virginia-woolfs-hogarth-press
oder
Das Buch kann kostenlos gespeichert und bei Bedarf ausgedruckt werden (448 Seiten, Format A4).
Anna D. Whyte in Cambridge
Rob Winchcombe, der Sohn der Autorin, stellte dankenswerter Weise dieses Foto zur Verfügung.
Anna D. Whyte / Anna D. Winchcombe - Veröffentlichungen (Auswahl):
Anna D. Whyte:
(A.D.W) "College Concert". In: An Anthology of Cambridge Women`s Verse. Compiled by Margaret Thomas. Hogarth Living Poets, First Series, No.20. Hogarth Press, London 1931
Change Your Sky. Hogarth Press, London 1935
Lights are Bright. Hogarth Press, London 1936
"The Dark House", The Evening Star, 25 November 1939, S. 4
"Tea with the Woolfs". In: Guardian, 31 March 1967, S. 6
Anna D. Winchcombe:
The Country of 'Under the Greenwood Tree'. Folder mit Plan, gezeichnet von George E. Winchcombe. Thomas Hardy Society, Dorchester 1972
The Country of 'Desperate Remedies'. Folder mit Plan, gezeichnet von George E. Winchcombe. Thomas Hardy Society, Dorchester 1972
Thomas Hardy. A Wayfarer. Dorset County Library, Dorchester 1978
Hardy's Cottage. National Trust 1981
The Life of Thomas Hardy. Dorset Books, 1989
Literatur- und Quellenverzeichnis:
Rob Winchcombe: Anna D. Whyte and the Woolfs. Virginia Woolf Bulletin No. 66, January 2021
J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986
Virginia Woolf: Tagebücher 4, 1931–1935, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 515
www.winchcombe.org/genealogy/winchcombes_bmd_marriages.aspx
www.modernistarchives.com/work/change-your-sky
Evening Post, Wellington, 7. November 1923: paperspast.natlib.govt.nz/newspapers/EP19231107.2.67?date=1923-11-07&query=Whyte&title=EP
Evening Post, Wellington, 24. Dezember 1930: paperspast.natlib.govt.nz/newspapers/EP19301224.2.12?end_date=24-12-1930&query=Whyte&start_date=24-12-1930&title=EP
Manawatu Standard, 13. January 1926: paperspast.natlib.govt.nz/newspapers/MS19260113.2.5?items_per_page=10&query=%22Anna+D.+Whyte%22&snippet=true
The Review of English Studies: University Examination Results, 1930: academic.oup.com/res/article/os-VI/24/506/1557141?searchresult=1
christchurchcitylibraries.com/DigitalCollection/Archives/Archive107/Series4/Item10/1937/PDF/Arch107-4-10-1937-01.pdf
www.librarything.com/author/whyteannaddigitalcollections.vicu.utoronto.ca/RS/pages/view.php?ref=6338&k=
Davis Yeadon: "In The Footsteps of Hardy in Dorset". The New York Times, July 26, 1981, Section 10, Page 1 / www.nytimes.com/1981/08/16/travel/l-hardy-country-233973.html