29. März 1902 – 14. November 1999
Schriftstellerin, Dichterin, Lektorin, Künstlerin
Ida Florence Graves, in Indien geboren, war die Tochter des Truppenarztes Colonel Douglas H. McDonnel Graves und seiner Frau Mabel Alice Petley, die liebevoll die "Schöne von Bangalore" genannt wurde. Ida war in einer Seitenlinie mit dem Bischof von Limerick verwandt, von dem auch der Dichter Robert Graves abstammte. Im Alter von sechs Jahren wurde sie nach England zur Grundschule geschickt, getrennt von ihrer angebeteten, lebenslustigen Mutter und vom kolonialen, schwülen Indien. Der Wechsel in das kalte, feuchte Klima Englands, das undefinierbare Essen, die strenge, religiöse Schule in Eastbourne bedeuteten für Ida Verbannung und machten sie zornig; sie war sehr talentiert, schrieb täglich Gedichte, die ihr weggenommen oder zerrissen wurden, und entwickelte eine Besessenheit, die sich auf ihr Schreiben und auf ihre künstlerischen Arbeiten auswirkten. Erst nachdem sich eine Tante für einen Schulwechsel eingesetzt hatte, kam sie in die Croham Hurst School, eine Quäkerschule außerhalb Londons, wo sie endlich eine verwandte Seele in der Gestalt der Schulleiterin Theodora Clark fand, die dieses unglückliche Kind liebte, die dichterische Begabung Idas erkannte und ihr Malerei und Bildhauerei näher brachte.
Mit neunzehn Jahren begann Ida Graves am University College London Englische Literatur zu studieren und besuchte einen Abendkurs für Bildhauerei an der Chelsea Art School. Ihre beste Freundin wurde die Schriftstellerin und Journalistin Stella Gibbons, die mit ihrem Roman "Cold Comfort Farm" bekannt wurde und darin gemeinsame Witze verarbeitete und Idas Ehemann Herbert Marks als pseudointellektuellen, sexverrückten Mr. Mybug auftreten ließ.
"Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte", heiratete sie um 1923 Herbert Henry Marks, Rechnungsprüfer, Liquidator, der so wie sie ausgehungert nach Kultur war und sich auch literarisch betätigte; das Paar hatte zwei Kinder, Anna und Anthony - er wurde im Alter von siebenundzwanzig Jahren von einer Lawine getötet. Die Ehe scheiterte bald - Marks konnte nur schwer mit seinen Potenz-Schwierigkeiten nach einem Motorradunfall umgehen; als ihr Mann eine Beziehung mit Isobel Powys, der Nichte von John Cowper Powys, einging, war Ida froh über die Trennung.
In den 20-er Jahren kam sie in Kontakt mit dem Kreis um Virginia und Leonard Woolf und publizierte im Rahmen der Reihe "Hogarth Living Poets" ihr erstes Buch "The China Cupboard and Other Poems"; die Gedichte erschienen 1929 als Nr. 5 der ersten Serie dieser Reihe, hatten eine Auflage von 500 Stück und waren in blaugrauen, schwarzbedruckten Karton gebunden. Mehr als ein halbes Jahrhundert später meinte Ida Graves in einem Interview mit The Independent (14. August 1994) dazu: "so schnulzig, das meiste von diesem Zeug habe ich in der Schule geschrieben".
1930 verliebte sie sich in den mit der Bildhauerin Gertrude Hermes verheirateten Künstler und Illustrator Blair Hughes-Stanton und zog mit ihm nach Higham bei Colchester / Suffolk; sie bekamen zwei Kinder - Corin (1933) und Kristin (1935) - und gründeten die "Gemini Press"; Ziel des Kleinverlages war es, Bücher zu drucken, in denen zeitgenössische Literatur mit Kunst verbunden wird. Der erste Band "Epithalamion. A Poem by Ida Graves" mit Holzschnitten von Blair Hughes-Stanton wurde bei der Biennale von Venedig international ausgezeichnet und war gleichzeitig ein Manifest der körperlichen und geistigen Vereinigung der beiden. Aus finanziellen Gründen verlegten sie auch ein Buch ihres Ex-Mannes: "Pastoral or Virtue Requited" (1935), das ebenfalls Holzschnitte von Hughes-Stanton enthielt, obwohl dieser Marks für einen aggressiven, reizbaren Kerl hielt.
Ab 1936 lebten sie in einem ehemaligen Weberhaus, einem Fachwerkbau aus dem 16. Jahrhundert, in Stratford St. Mary / Suffolk, das Ida Graves auch nach der endgültigen Trennung von Hughes-Stanton 1950 - nach ihren Worten war er charmant, gut erzogen, aber ein Sadist - weiter bewohnte.
Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit lektorierte Ida Graves Manuskripte für das Theater, malte Szenenbilder und nähte Kostüme für das Covent Garden National Ballet, machte Skulpturen, stellte wunderbare mit Wolle bestickte Schiff- und Meeresbilder her, machte fantastischen Papier- und Stoff-Collagen und zeichnete humorvolle Schmeichel-Porträts von Familie und Freunden.
Ihr Bekanntenkreis bestand aus KünstlerInnen und SchriftstellerInnen wie Jacob Epstein, Wilfried Evill, Mark Gertler, Kathleen Hale, Ivon Hitchens, Henry Moore, Stanley Spencer, David Wright und ihrer engen Freundin aus Collegetagen Stella Gibbons. Diese Nähe zu Kunstschaffenden und ihr Kunstverständnis bewirkten auch, dass sie Robert Sainsbury, der Anfang der dreißiger Jahre begann, Bücher aus Kleinverlagen zu sammeln, beim Aufbau seiner Kunstsammlung behilflich war: so kaufte er u. a. Werke von Epstein ("Baby Asleep") und Moore. Die Sainsbury Collection an der University of East Anglia zeigt deutlich ihren Einfluss.
1942 publizierte die Londoner Fortune Press Ida Graves’ langes Gedicht "Mother and Child" mit einem Frontispiece von Hughes-Stanton; dann, während der Fünfziger, unter den Künstlernamen Affleck Graves, veröffentlichte sie bei Faber and Faber drei Kinderbücher (Ostrobogolous Pigs, 1952 / Mouse Tash, 1953 / Little Thumbamonk, 1956) und zwei autobiografische Romane: "Willa, You’re Wanted" (1952), mit einer Umschlagillustration von Ronald Searle, die Willas (=Idas) Wesen ausdrückt, und "Elarna Cane" (1956), die Geschichte eines kleinen Dienstmädchens, das ohne es zu wollen, die Hintergründe für die verborgenen Hassgefühle eines kinderlosen Ehepaars zu Tage bringt.
1953, als Ida fünfzig war, traf sie den 25-jährigen Jazzpianisten Don Nevard, der bis zu ihrem Lebensende zuerst ihr treu ergebener Partner und dann ihr Ehemann war. Nahezu die nächsten vierzig Jahre schwieg Ida Affleck Graves; sie schrieb zwar weiter Gedichte, legte sie aber in die Schublade - bis ein Lehrer aus Norwich in der 1984 gegründeten Literaturzeitschrift Rialto etwas von ihr las: Peter Wallis wurde ihr Freund und eine Art Manager, und er war es, der ihre Gedichte abtippte und sie 1993 an die Oxford University Press schickte. Die Gedichte dieser Sammlung erwiesen sich als unwiderstehlich: skuril, lebendig, lustig, traurig, urig, respektlos, melodisch und sehr dicht. "Ich hoffe" schrieb Ida Affleck Graves in einer für die Oxford University Press unüblichen Einführung, "der Leser wird vor Freude schreien". "A Kind Husband" wurde 1994 in der Reihe "Oxford Poets" veröffentlicht, fünf Jahre später erschien in derselben Reihe "The Calfbearer", neue Gedichte, lebendig wie immer und mit ihren bevorzugten Motiven - Kindheit, Tiere, Vögel und Pflanzen, ihr Garten -, die sie sensibel genau beschrieb und mit ein paar Gedichten, die sich direkt und sehr bewegend mit dem Tod auseinandersetzen.
Ida Graves führte ein unkonventionelles Leben, sie war ein sehr direkter, leidenschaftlicher Mensch, arglos und boshaft zugleich, konnte Ungerechtigkeit nicht vertragen, freute sich über Wortspiele und brach in Gelächter aus, wenn ihre sich räkelnde Katze Priapus plötzlich, das Gleichgewicht verlierend, vom Sofa fiel.
Ihr altes Haus mit dem bewusst verwilderten, überwucherten Garten wurde zum Hafen für BesucherInnen aller Art und jeden Alters: die Tür stand - im übertragenen Sinn - immer offen: Dorfkinder kamen um Rat, um zu helfen, um zu essen und zu spielen, Erwachsene kamen aus denselben Gründen, wollten aber auch ihre erstaunlichen Erinnerungen hören, erfreuten sich an den abstrusen Fakten, mit denen sie die Unterhaltung auffrischte. Und alle genossen die einzigartige Atmosphäre ihres Hauses, das voll war mit schönen und seltsamen Objekten.
Ida Graves starb mit 97 Jahren im Beisein ihres Mannes Don Nevard und wurde im Garten ihres Hauses in Stratford St. Mary begraben.
Literatur- und Quellenverzeichnis:
J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986
"Jacqueline Simms: Obituary Ida Affleck Graves". In: The Independent, 23 November 1999 (http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/obituary-ida-affleck-graves-1128050.html)
"Blake Morrison: Poetry discovers a new Talent - aged 92", 14 August 1994 (www.independent.co.uk/news/uk/home-news/poetry-discovers-a-new-talent-aged-92-a-distant-cousin-of-robert-graves-would-like-to-be-a-cult-1383501.html)
en.wikipedia.org/wiki/Blair_Hughes-Stanton
Ida Affleck Graves: www.carcanet.co.uk
Sainsbury Sammlung: www.scva.ac.uk
www.geograph.org.uk/photo/273776
suffolkpainters.co.uk/index.cgi?choice=painter&pid=1798
www.theguardian.com/news/1999/nov/29/guardianobituaries3
www.worthpoint.com/worthopedia/copy-ostrobogulous-pigs-ida-affleck-538091646
www.modernistarchives.com/work/the-china-cupboard-and-other-poems
Bildnachweis:
Weberhaus in Stratford St. Mary / Suffolk: cc-by-sa/2.0 - © Robert Edwards - geograph.org.uk/p/273776
Ida Graves wohnte ab 1936 bis zu ihrem Lebensende in dem aus dem 16. Jahrhundert stammenden ehemaligen Weberhaus. Das Haus liegt in Stratford St. Mary in Suffolk, einem kleinen Ort, der bereits 1086 im Domesday Book erwähnt wurde.
Ida Graves erster Gedichtband erschien 1929 als Nummer 5 der Reihe "Hogarth Living Poets", die Reihe wurde von Dorothy Wellesley herausgegeben, grafisch gestaltet wurde sie von Virginia Woolfs Schwester Vanessa Bell.
Ida Graves - Veröffentlichungen (Auswahl):
"The Dancing Angel". In: Spectator, August 5, 1922, London
The China Cupboard and Other Poems. Hogarth Living Poets
No 5, Hogarth Press, London 1929
Epithalamion: A Poem by Ida Graves. With Associate Wood-Engraving by Blair Hughes-Stanton. Gemini Press, Colchester 1934
Collected Poems. Cassell, 1938
Mother and Child. The Fortune Press, London 1942
Ida Florence Hughes-Stanton - Veröffentlichungen (Auswahl):
Ostrobogolous Pigs. Faber and Faber, London 1952
Mouse Tash. Faber and Faber, London 1953
Little Thumbamonk. Faber and Faber, London 1956
Willa, You’re Wanted. Faber and Faber, London 1952
Elarna Cane. Faber and Faber, London 1956
Ida Affleck Graves - Veröffentlichungen (Auswahl):
Beiträge in: Samphire New Poetry, 6 - 10. Butler & Williams, Ipswich 1969 / 1970
A Kind Husband. Oxford Poets, Oxford University Press, 1994
The Calfbearer. Oxford Poets, Oxford University Press, 1999
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