3. Mai 1901 – 19. Mai 1973
Schriftstellerin, Literaturkritikerin
Lyn Lloyd Irvine war Schriftstellerin und Literaturkritikerin. Sie wurde in Berwick-upon-Tweed, der nördlichsten Stadt Englands, geboren und war die Tochter von Lilian Irvine, geb. White, die aus Irland stammte, und von John Archibald Irvine, einem schottischen presbyterianischen Geistlichen. 1908 übersiedelte die kinderreiche Familie nach Westhill Terrace bei Aberdeen. Lyn besuchte die Albyn Place School, studierte anschließend an der University of Aberdeen und schloss das Studium der Englischen Literatur mit Auszeichnung ab; von 1924 bis 1927 war sie Forschungsstipendiatin am Girton College in Cambridge und arbeitete zum Thema "The Literary Criticism of the Bible"; 1926 erhielt sie ein Forschungsstipendium des "Carnegie Trust".
Nach Abschluss ihrer Studien ging sie nach London, um als Journalistin und Schriftstellerin zu arbeiten; ihr Professor, der Schriftsteller und Kritiker Arthur Quiller-Couch* versah sie mit einem Empfehlungsschreiben an Leonard Woolf. Sie schickte Gedichte an Nation and Athenaeum und reichte einen Roman ("The Resting Arrow" ?) bei der Hogarth Press ein, der allerdings nicht angenommen wurde. Leonard Woolf forderte sie jedoch auf, für The New Statesman und Nation and Athenaeum, deren literarischer Herausgeber er war, Buchrezensionen und Beiträge zu schreiben: so rezensierte sie z. B. Virginia Woolfs "A Room for One's Own" in Nation and Athenaeum (9. November 1929); eines ihrer Gedichte ("Lines on Growing Old") wurde nach Abdruck in Nation and Athenaeum in die von L. A. G. Strong herausgegebene Anthologie "The Best Poems of 1926" aufgenommen. Weitere Zeitschriften für die sie arbeitete waren: The Spectator, The Listener und The Observer.
Virginia Woolf bewunderte ihr Geschick und ihren Unternehmergeist, mit dem sie sich alleine durch Schreiben den Lebensunterhalt verdiente, war von ihrer Ehrlichkeit, Strenge und Klarsichtigkeit angetan, von ihrer Art, präzise und methodisch ihre Meinung zu äußern. Leonard Woolf hielt sie für die beste Romanrezensentin, die er je in der Zeitschrift hatte: ein großes Kompliment, denn auch Virginia Woolf war als Rezensentin sehr aktiv. Durch die Woolfs lernte sie nicht nur die Mitglieder des Bloomsbury-Kreises kennen sondern auch Antoinette Brett Esher; sie war die Tochter des US-amerikanischen Multimillionärs August Heckscher und mit Dorothy Bretts Bruder, dem Architekten Oliver Brett, 3. Viscount Esher, verheiratet. Zwischen den beiden Frauen entwickelte sich eine Freundschaft mit intensivem Briefwechsel von verblüffender Offenheit und Vertrautheit - und mit kleinen literarischen Kostbarkeiten aus der Feder Lyns.
Auf Anregung Leonard Woolfs schrieb Lyn für die Hogarth Press ihr erstes Buch, das innerhalb des Bloomsbury-Kreises und darüber hinaus sehr geschätzt wurde; "Ten Letter-Writers" (1932) enthält Essays über drei französische und sieben englische bzw. fünf weibliche und fünf männliche BriefschreiberInnen: Lady Bessborough, Madame du Deffand, Jane Welsh Carlyle, Dorothy Osborne, Madame de Sevigny und William Cowper, Charles Lamb, Prosper Merimee, Jonathan Swift, Horace Walpole; ergänzt werden die Essays durch Diskussionen über das Jahrhundert des Briefschreibens und über Frauen als Briefschreiberinnen. Zwischen Leonard Woolf und der Autorin entstanden nach Erscheinen des Buches Unstimmigkeiten bezüglich der Werbemaßnahmen: Lyn war der Meinung, dass ihr Buch einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden müsste, die Woolfs hatten mit ihrem Unbehagen gegenüber Kommerzialisierung des Verlages und einer gewissen Überheblichkeit, über die Grenzen von Bloomsbury und den ihnen nahestehenden linken Kreisen hinauszugehen, andere Vorstellungen vom Einsatz von Werbemitteln. Trotzdem hatte das Buch Erfolg - u. a. besprach es William Plomer im Spectator (29. Oktober 1932) - und dieser Erfolg bestärkte Lyn Irvine in ihrem Vorhaben, eine kritische, vierzehntägige Literaturzeitschrift zu gründen, The Monologue. Von ihrer Wohnung am Battersea Park aus gestaltete sie die Zeitschrift: im Februar 1934 erschien die erste, vollständig von ihr selbst verfasste, hektographierte Nummer - von Virginia Woolf als ihr ziemlich bissiger und dünnblütiger Bastard bezeichnet. Abonnenten waren u. a. Clive und Julian Bell, Elizabeth Bowen, David Garnett, Graham Greene, Maynard Keynes, Frances Partridge, Vita Sackville-West, Leonard und Virginia Woolf. Das Jahresabo kostetet zehn Shilling (50 Pence nach heutigem Geld oder 1 Dollar). The Monologue, dessen Umschlag von Monica Marks gestaltet wurde, rezensierte zeitgenössische Bücher, berichtete über literarische Neuigkeiten, beobachtete kritisch das Anwachsen des Faschismus - Lyn hatte im Sommer 1934 Österreich und Deutschland besucht - und enthielt Briefe u. a. von Max Newman und Odette Keun, von Ezra Pound und Leonard Woolf. Von der Zeitschrift erschienen nur 24 Ausgaben, die letzte im Februar 1935.
Lyn Irvine heiratete am 28. Dezember 1934 den Cambridger Mathematiker Maxwell H. A. Newman in der presbyterianischen St. Columba’s Church of Scotland in London (Pont Street); sie hatte ihn 1932 bei einer Cambridger Party durch ihre gemeinsame Freundin Ceceley Creasy kennen gelernt, mit den Worten: "Max is our local Solipsist". Max Newman war ein herausragender Wissenschaftler, der sowohl in der Forschung wie auch in der Lehre neue Wege beschritt; beiden schien eine Karriere sicher. Max Newman wurde ein hervorragender Topologe und leitete im Krieg eine der Gruppen für Code-Entschlüsselung in Bletchley Park, Lyn Newman kam zu der Einsicht, dass sie offensichtlich eine unbeabsichtigte Karriere eingeschlagen hatte: sie wurde die Frau eines Mathematikprofessors, bekam zwei Söhne (Edward, 1935, und William, 1939), widmete sich dem Familienleben und ließ ihre literarischen Aktivitäten ruhen.
1937 ging sie mit ihrem Mann, der vom Institute for Advanced Studies in Princeton eingeladen worden war, und ihrem kleinen Sohn Edward für ein halbes Jahr in die USA, lebte danach wieder in Cambridge, bekam ihren zweiten Sohn William und fuhr nach der Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland wieder in die USA. Da Max Newman jüdischer Abstammung war, fürchteten beide im Fall einer Invasion durch Nazi-Deutschland um die Sicherheit ihrer Kinder. Während Max in Cambridge blieb, lebte Lyn abwechselnd bei Freunden in New York und Princeton und hatte nur wenig Geld zur Verfügung; nach einem Besuch von Maynard und Lydia Keynes in Princeton dachte sie - trotz finanzieller Schwierigkeiten - wieder daran, The Monologue aufleben zu lassen.
Dazu kam es aber nicht, 1943 kehrte Lyn Newman mit ihren Söhnen nach England zurück und zog in ein kleines Haus, zwanzig Meilen von Bletchley Park entfernt, wo Max seit 1942 arbeitete; 1944 übersiedelte die Familie wieder nach Cross Farm, den Familiensitz in Comberton nahe Cambridge, den sie nach ihrer Hochzeit erworben hatten. Lyn Newman war froh, endlich wieder in vertrauter Umgebung zu sein, dachte wieder ans Schreiben und wollte hier auch bleiben; als ihr Mann 1945 das Angebot einer Professur in Manchester erhielt, zog sie mit ihrer Familie in die Kleinstadt Bowdon (Helmsley House, Grange Road) südlich von Manchester. Max Newman gründete das Royal Society Computer Machine Laboratory und entwickelte gemeinsam mit seinem ehemaligen Studenten Alan Turing den ersten elektronische Computer mit Programm-Speicher (Manchester Baby). Während Lyn sich mit den alltäglichen Widrigkeiten der Nachkriegszeit auseinandersetzen musste, konnte ihr Mann kaum damit umgehen und es kam zwischen den beiden zu ersten Spannungen.
1955 kehrte Lyn Newman mit den Kindern nach Cross Farm zurück - Max Newman lebte weiter in Manchester und verbrachte lediglich die Ferien in Comberton. Lyn, die eine begeisterte Briefeschreiberin war und eine umfangreiche, sehr persönliche Korrespondenz hinterließ, begann langsam wieder ans Schreiben von Büchern zu denken; 1957 veröffentlichte sie ihr erstes Buch nach dem Krieg, "So Much Love, So Little Money", eine liebevolle Erinnerung an ihre Kindheit. Zu Sara Turings Biografie ihres auf tragische Weise ums Leben gekommenen Sohnes Alan Turing, Kollege von Max Newman und enger Freund der Familie, schrieb sie ein häufig zitiertes langes Vorwort - Turing verübte 1954 Selbstmord, nachdem er zwei Jahre zuvor wegen Homosexualität zur chemischen Kastration verurteilt wurde und in der Folge an Depressionen litt.
Mit Antoinette Eshers Hilfe renovierte sie das Dove House auf dem Gelände der Farm; es entstand ein "Writer’s Cottage" und damit verwirklichte Lyn Newman das, was Virginia Woolf allen Frauen wünschte - einen Raum für sich selbst. Max Newman kehrte nach seiner Pensionierung 1964 zur Cross Farm zurück, diese wurde geteilt, einen Teil bewohnte er selbst, der andere Teil wurde vermietet, wie z. B. 1965 an Jane Goodall, die hier ihre Dissertation schrieb. Lyn Newman kümmerte sich zwar weiter um den Haushalt, blieb aber in ihrem Dove House.
Lyn Newman schrieb noch zwei Bücher und gründete ihren eigenen Verlag, Monologue Books: "Field with the Geese" (1960) ist eine lebendig geschriebene Studie über das Sozialverhalten von Gänsen, die sie auf der Farm hielt und liebevoll beobachtete. "Alison Cairns and her Family" erschien 1967 in ihrem Verlag Monologue und handelt von der Familie des presbyterianischen Theologen David Smith Cairns aus dem schottisch-englischen Grenzgebiet.
Lyn korrespondierte von ihrem "Taubenschlag" aus mit Freunden und Familie und führte ein kreatives Leben. Ihre Pläne für weitere Bücher - z. B. über das Leben der Schauspielerin und Schriftstellerin Fanny Kemble - wurden durch ihre Krebserkrankung zerschlagen: sie starb daran im Mai 1973.
Zu ihrem hundertsten Geburtstag wurde mit der Ausstellung "Lyn Newman: a Cambridgeshire Writer" in der "Cambridge Central Library" an sie erinnert.
* Arthur Quiller-Couch war seit 1912 Professor für Englische Literatur in Cambridge; er schrieb unter dem Pseudonym "Q" Romane, war mit Robert Louis Stevenson
befreundet und beendete dessen Roman "St Ives" (Kapitel 31-36).
Literatur- und Quellenverzeichnis:
J. Howard Woolmer: A Checklist of the Hogarth Press. 1917–1946. Woolmer/Brotherson Ltd., Revere, Pennsylvania 1986
Elizabeth Willson Gordon: Woolf's-head Publishing. The Highlights and New Lights of the Hogarth Press. University of Alberta Libraries, 2009
Girton College Register 1869–1946. Cambridge 1948
J. H. Willis, Jr.: Leonard and Virginia Wolf as Publishers. The Hogarth Press 1917–1941. University Press of Virginia. Charlottesville and London, 1992
Virginia Woolf: Tagebücher 3, 1925–1930, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999
Virginia Woolf: Tagebücher 4, 1931–1935, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003
Quentin Bell: Virginia Woolf. Eine Biographie. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1978
Sybil Oldfield (Ed.): Afterwords. Letters on the Death of Virginia Woolf. Rutgers University Press, New Brunswick, New Jersey 2005
William Newman: Married to a Mathematician: Lyn Newman's Life in Letters (PDF) / www.mdnpress.com/wmn/pdfs/MarriedToaMathematician.pdf
B. Jack Copeland (Ed.): Colossus: The Secrets of Bletchley Park's Code-breaking Computers. Oxford University Press, 2010
L. A. G. Strong (Ed.): The Best Poems of 1926. Dodd, Mead & Co., New York (archive.org)
The Aberdeen University Review, Band 46. Aberdeen University Press, 1976
Dale Peterson: Jane Goodall. The Woman Who Redefined Man. Houghton Mifflin Hartcourt, 2008
en.wikipedia.org/wiki/Lyn_Irvine
de.wikipedia.org/wiki/Max_Newman
janus.lib.cam.ac.uk/db/node.xsp?id=EAD%2FGBR%2F0271%2FGCPP Newman
janus.lib.cam.ac.uk/db/node.xsp?id=EAD%2FGBR%2F0275%2FNewmanL
www.cdpa.co.uk/Newman/LN/
www.sjcarchives.org.uk/personal/index.php/papers-of-lyn-newman
oben: Maxwell H. A. Newman und Lyn Lloyd Newman, geb. Irvine
unten: Lyn 1934 zu Besuch bei den Woolfs im Monk's House, Rodmell
Dove House, Cross Farm, Comberton
Nach ihrer Hochzeit erwarben Lyn und Max Newman das Anwesen in der Nähe von Cambridge. Das Dove House am Farmgelände baute Lyn zu ihrem "Writers Cottage" um und schuf damit ein "Zimmer für sich allein".
"Ten Letter-Writers" erschien im September 1932 in einer Auflage von 1000 Stück. Das Buch war in goldbedrucktes grünes bzw. braunes Leinen gebunden und hatte
einen von Richard Kennedy entworfenen, cremefarbenen Schutzumschlag, der grün bedruckt war. Das Hogarth Press Verlagssignet entwarf E. McKnight Kauffer 1928.
Lyn Irvine - Veröffentlichungen (Auswahl):
Ten Letter-Writers. Hogarth Press, London 1932
So Much Love, So Little Money. Faber and Faber, London 1957
Vorwort zu "Sara Turing: Alan M. Turing". Heffers, Cambridge 1959
Field with Geese. A Book about the Domestic Goose. Hamish Hamilton, London 1960 / William Morrow, New York 1961
Alison Cairns and her Family. Monologue Books, Comberton 1967
Lyn Irvine - Beiträge in Zeitschriften (Auswahl):
"Lines on Growing Old". In: Nation and Athenaeum, May 1, 1926
"Virginia Woolf upon Women". In: Nation and Athenaeum, Vol. 46, No. 6, Saturday, November 9th, 1929
"Mr. T. S. Eliot Annoys the Critics". In: The Monologue, 15 March 1934
"War on Top of the World". The Nation, March 28,1942
Bildnachweis:
Max Newman: by Walter Stoneman, May 1939
© National Portrait Gallery, London /
www.npg.org.uk/collections/search/person/mp77771/max-newman?search=sas&sText=Maxwell+Newman
Lyn Irvine: gallery.nen.gov.uk/asset668108_14609-.html
Lyn Irvine 1934: Virginia Woolf Monk's House photograph album, MH-3 / ids.lib.harvard.edu/ids/view/17948550?buttons=y / ids.lib.harvard.edu/ids/view/17948555?buttons=y
Dove House: www.flickr.com/photos/harpistic/5526564798/in/photostream/
Im Berliner Verlag Autonomie und Chaos erschien im Juli 2022 eine Online-Ausgabe von "Frauen in Virginia Woolfs Hogarth Press" mit zusätzlichen
illustrierenden Hintergrundtexten. Das Buch kann kostenlos gespeichert und bei Bedarf ausgedruckt werden (448 Seiten, Format A4).
autonomie-und-chaos.de/die-buecher/helga-kaschl-frauen-in-virginia-woolfs-hogarth-press